Die Ängste von Psychotherapeuten bei ihrer Arbeit mit suizidalen Patienten*)

Erste Ergebnisse einer Untersuchung bei 293 Psychotherapeuten
Wolfram Dorrmann (1996).

Ausgangspunkt für die Studie¹), über die hier berichtet werden soll, war die Selbsterfahrungsphase, die ich meinen Fort- und Weiterbildungsseminaren zum Thema Suizidprävention²) bisher immer voranstelle. In den dabei verwendeten Übungen geht es vor allem darum, die Teilnehmer anzuleiten, sich mit ihren Befangenheiten und Ängsten bezüglich des Themas Suizid auseinanderzusetzen. In den anschließenden Auswertungsgesprächen wurden meist sehr intensive aber auch inhaltlich sehr unterschiedliche Ängste geäußert. Aus diesen Diskussionsergebnissen habe ich einen Fragebogen zur Selbstreflexion erstellt, den inzwischen alle Teilnehmer zu Beginn und am Ende des Seminars ausfüllen. Er enthält sowohl Ängste, die mehr mit der Persönlichkeit des Therapeuten in Verbindung stehen, als auch Ängste, die sich eher auf seine therapeutischen Kompetenzen beziehen (s. Tab. 1). Anfänglich sollte dieser Fragebogen nur dazu dienen, die Selbsterfahrungsphase im Seminar zu verkürzen und zu effektivieren. Nach einiger Zeit fand ich das Thema auch wissenschaftlich interessant und begann, die Fragen zusammen mit einigen persönlichen statistischen Daten zu erheben, um sie irgendwann auszuwerten.


¹ ) Diese Studie konnte natürlich nur durch die Mitarbeit der Seminarteilnehmer und durch das Interesse der Einrichtungen und Ausbildungsinstitute, die diese (19) Seminare planten und organisierten, zustande kommen. Ihnen sei hiermit herzlich gedankt: Abt. Klin. Psychologie der Univ. Mainz, APV (Münster), CIP (München), DGVT (Tübingen), DPA-F (Freiburg), FIKV (Bad Pyrmont), IFT (München), Krisendienst HORIZONT (Regensburg), Krisendienst Würzburg, WKV (Marburg), IWVT (Hamburg).
Für die Unterstützung bei der Eingabe der Daten und Nachhilfe in der statistischen Auswertung bedanke ich mich bei Iris Storck, Dr. Rüdiger Hinsch und Prof. Hans Reinecker.

²) "Suizidalität während der Therapie: Therapeutische Interventionen bei Selbsttötungsabsichten - Ein Trainingsseminar"

*) Dorrmann, W. (1996). Ängste von Psychotherapueten bei ihrer Arbeit mit suizidalen Patienten. Erste Ergebnisse einer Untersuchung. In Dorrmann (1996)  S.153-163 


Der Suizidforscher Hermann Pohlmeier hat schon vor Jahren (1982) auf das Problem der Ängste von Psychotherapeuten, die mit akut suizidalen Patienten konfrontiert sind, aufmerksam gemacht. Er spricht vor allem von "... fünf Formen der Angst, die in diesem Praxisfeld zu bewältigen sind, nämlich die Angstvor der Ohnmacht, die Angst vor der Aggression, die Angst vor Tod und Sterben, die Angst vor Strafe und die Angst vor Identitätsverlust (Pohlmeier 1982, S.169). Wie in der Tabelle 1 unschwer erkennbar, tauchen diese fünf Ängste, in etwas anderen Formulierungen, auch hier auf (Item 15, 8, 1, 7 u. 9):

Fragebogen:

Schätzen Sie bitte ein, wie stark Sie die folgenden Ängste
Ihren suizidalen Patienten gegenüber erleben.

A. Persönlichkeitsspezifische Ängste: 
1. Grundsätzliche Angst vor 
den Themen "Tod" und "Sterben" --------> 
5 --- 4 --- 3 --- 2 --- 1 --- 0
2. Vermeidung des Themas wegen möglicher eigener 
Suizidalität bei ähnlichen Lebenssituationen 
(Angst vor dem eigenen Zustimmen) --------> 
5 --- 4 --- 3 --- 2 --- 1 --- 0
3. Angst vor den möglichen intensiven 
Gefühlen des Klienten -------------------------> 
5 --- 4 --- 3 --- 2 --- 1 --- 0
4. Scheu, den Kl. mit seinem bisherigen 
"Versagen" im Leben zu konfrontieren ------> 
5 --- 4 --- 3 --- 2 --- 1 --- 0
5. Eigene religiöse/eth. Unsicherheiten oder 
Festgelegtheit bzgl. des Themas -------------> 
5 --- 4 --- 3 --- 2 --- 1 --- 0
6. Angst vor der Verantwortung ------------------->  5 --- 4 --- 3 --- 2 --- 1 --- 0
7. Angst vor den Konsequenzen 
eines Patientensuizids ---------------------------> 
5 --- 4 --- 3 --- 2 --- 1 --- 0
8. Angst vor möglichen aggressiven 
Impulsen des Patienten -------------------------> 
5 --- 4 --- 3 --- 2 --- 1 --- 0
9. Angst, den eigenen Lebenssinn 
hinterfragen zu müssen -----------------------> 
5 --- 4 --- 3 --- 2 --- 1 --- 0
B. Ängste, bezogen auf  
die therapeutischen Kompetenzen: 
10. Angst vor Fehleinschätzung und den 
damit verbundenen Konsequenzen ---------> 
5 --- 4 --- 3 --- 2 --- 1 --- 0
11. Angst, den Patienten durch das Ansprechen 
`erst auf die Idee zu bringen' -----------------> 
5 --- 4 --- 3 --- 2 --- 1 --- 0
12. Angst vor dem Manipuliertwerden durch 
den Patienten ------------------------------------> 
5 --- 4 --- 3 --- 2 --- 1 --- 0
13. Angst vor mangelndem 
eigenem Einfühlungsvermögen --------> 
5 --- 4 --- 3 --- 2 --- 1 --- 0
14. Angst, die dem Thema angemessene 
Sprache nicht zu finden ------------------------> 
5 --- 4 --- 3 --- 2 --- 1 --- 0
15. Angst, keine Interventionsmöglichkeiten 
zu bieten zu haben ------------------------------> 
5 --- 4 --- 3 --- 2 --- 1 --- 0

Den Fragebogen aus dieser unsystematischen Sammlung haben mittlerweile fast 300 Psychotherapeuten ausgefüllt. Zusätzlich wurde auch ihr Alter, Geschlecht, Berufserfahrung, ihr Arbeitsfeld und das Ausmaß ihrer spezifischen Erfahrungen mit Suizidpatienten erfaßt. Auf eine Frage nach der therapeutischen Ausrichtung und Berufsausbildung wurde bewußt verzichtet, um zu vermeiden, daß die Beantwortung nicht allzusehr durch die persönliche Identifikation mit einer bestimmten Therapieschule bzw. Berufsgruppe beeinflußt wird. Die detaillierten Ergebnisse dieser Studie**) werden an anderer Stelle noch ausführlicher dargestellt (Storck & Dorrmann, in Vorber.). Hier sollen nur die wichtigsten Ergebnisse berichtet und diskutiert werden.

Von den insgesamt 293 Fragebogen waren 289 für die Auswertung verwendbar. Davon waren 184 Frauen und 105 Männer. Ihr Alter lag zwischen 26 und 58 Jahren (M = 35,85; SD=6,68). In der Tabelle 1 ist die Rangfolge der Items in ihrer Ausprägung dargestellt.

Tabelle 1: Die Ängste von Psychotherapeuten (N=289) bezogen auf suizidale Patienten
Angst-Items  Ausprägung: Mittelwert (Standardabw.)
7. Angst vor den Konsequenzen . 
eines Patientensuizids: 
        3,34 (1,18) 
10. Angst vor Fehleinschätzung u.d. 
damit verbundenen Konsequenzen: 
        3,25 (1,14) 
15. Angst, keine Interventionsmöglich- 
keiten zu bieten zu haben: 
      2,97 (1,25) 
6. Angst vor der Verantwortung:        2,78 (1,29) 
4. Scheu, den Kl. mit seinem bisherigen 
"Versagen" im Leben zu konfrontieren: 
      2,43 (1,23 )
8. Angst vor möglichen aggressiven 
Impulsen des Patienten: 
      2,19 (1,12) 
3. Angst vor den möglichen intensiven 
Gefühlen des Klienten: 
     2,04 (1,14) 
12. Angst vor dem Manipuliertwerden 
durch den Patienten: 
     2,00 (1,28) 
14. Angst, die dem Thema angemes- 
sene Sprache nicht zu finden: 
    1,93 (1,19) 
13. Angst vor mangelndem 
eignen Einfühlungsvermögen 
    1,73 (1,13) 
1. Grundsätzliche Angst vor 
den Themen "Tod" und "Sterben": 
    1,72 (1,18) 
11. Angst, den Pat. durch das An- 
sprechen `erst auf die Idee zu bringen´: 
    1,26 (1,17) 
9. Angst, den eigenen Lebenssinn 
hinterfragen zu müssen: 
  0,97 (1,08) 
5. Eigene religiöse/eth. Unsicherheiten 
oder Festgelegtheit bzgl. des Themas: 
  0,94 (0,93) 
2. Vermeidung des Themas wg. mögli- 
cher eig. Suizidalität bei ähnl. Lebens- 
situationen (A. v. dem eig. Zustimmen): 
  0,88 (0,97) 

Die allgemeine "Angst vor den Konsequenzen eines Patientensuizids", die an oberster Stelle steht, spiegelt mit großer Wahrscheinlichkeit ganz verschiedene Aspekte einer solchen Situation wider, wobei die Angst vor juristischen Konsequenzen eine große Rolle spielen dürfte. Das Bedürfnis nach Aufklärung und Sicherheit in juristischen Fragen wird in den Seminaren sehr oft schon zu Beginn geäußert. Es entspricht auch der von Pohlmeier formulierten "Angst vor Strafe" (s.o.). Das hohe Ausmaß dieser Angst müßte insofern überraschen, als bisher in Deutschland kein Psychotherapeut wegen eines Kunstfehlers verurteilt worden ist. Diese Tatsache ist jedoch unter Therapeuten kaum bekannt. Andererseits könnten die Teilnehmer hier auch ihre Ängste vor Schuldgefühlen, Selbstvorwürfen, Vorwürfen der Anghörigen, Rufschädigung u.ä. gemeint haben. In einer Folgestudie sollte dieses Item wohl etwas differenzierter angeboten werden.

Die beiden in der Rangreihe nachfolgenden Ängste sind solche, die sich auf Defizite in den diagnostischen und therapeutischen Kompetenzen beziehen. Demgegenüber ist es sehr auffällig, daß Ängste, die sich auf die persönlichen Einstellungen zum Suizid beziehen, ganz am Ende rangieren (2, 5 u. 9).

Bei der Auswertung wurden zunächst auch erhebliche Geschlechtsunterschiede festgestellt, jedoch zeigte sich, daß die männlichen Teilnehmer sich von den weiblichen in der durchschnittlich längeren Berufserfahrung (Mm=8,6J / SD=7,3; Mw=4,8 J / SD=4,5; t=4,51; p < .001), sowie im Alterin hochsignifikanter Weise unterschieden (Mm=38,2J / SD=7,0; Mw=34,2 / SD=6,0; t=4,36; p < .001). Zusätzlich bstanden zwischen den Items und dem Alter sowie der Berufserfahrung zum Teil hochsignifikante negative Korrelationen. Es lag also die Vermutung nahe, daß die Geschlechtsunterschiede durch Stichprobenbesonderheiten zustandegekommen sein könnten. Beim Auspartialisieren der Berufserfahrung änderten sich die Korrelationen der Items mit dem Alter erstaunlicherweise nur wenig. Das bedeutet, daß die Berufserfahrung einen geringeren Einfluß auf das Ausmaß der geäußerten Ängste hat als das Lebensalter. Allerdings müßte letzteres im Grunde durch eine Längsschnittstudie überprüft werden. Denn die Hypothese, daß gerade ältere Psychotherapeuten weniger Möglichkeiten zur Eigentherapie und Selbsterfahrung hatten als jüngere und damit auch eher dazu neigen könnten, ihre Ängste vor sich selbst zu verleugnen, ist sehr naheliegend.
Wie die Abbildung 2 zeigt, ließ sich jedoch ein deutlicher Einfluß der therapeutischen Erfahrung mit suizidalen Patienten feststellen. Diese drei Gruppen unterschieden sich nicht nach Alter, Geschlecht und Berufserfahrung und waren deshalb gut vergleichbar. Schon die Grafik zeigt, daß die Ängste der Gruppe mit den häufigsten Kontakten fast durchweg geringer sind als die der anderen Gruppen: vor allem die Angst davor, die dem Thema angemessene Sprache nicht zu finden (14), die Angst vor der Verantwortung (6), die Angst vor möglichen intensiven Gefühlen des Klienten (3), die Scheu den Klienten mit seinem bisherigen Versagen zu konfrontieren (4), die Angst vor möglichen aggressiven Impulsen des Klienten (8), die Angst den Patienten durch das Ansprechen erst auf die Idee zu bringen (11) und die Angst keine Interventionsmöglichkeiten zur Verfügung zu haben (15). Dies sind vorwiegend Ängste, die sich auf die konkrete Gesprächssituation mit dem Patienten beziehen. Diese Ergebnisse sind allerdings nicht so überraschend wie die fehlenden Unterschiede bei den andern Items. So wäre zwar aufgrund der undifferenzierten Fragestellung (s.o.) erklärbar, daß die Angst, vor den Konsequenzen eines Patientensuizids (7) in allen Gruppen in nahezu gleichem Ausmaß geteilt wird, andererseits ist dies bei der Angst vor dem Manipuliertwerden durch den Patienten (12) oder der Angst vor mangelndem Einfühlungsvermögen (13) sehr verwunderlich und schwer interpretierbar. Möglicherweise werden manche Ängste von unerfahrenen Therapeuten unterschätzt, die von betroffenen Therapeuten aber sehr stark erlebt werden.
Eine amerikanische Studie in der 285 Psychotherapeuten nach dem Auftreten von 24 verschiedenen Gefühlszuständen gegenüber ihren Patienten befragt wurden, ergab, daß das Gefühl, welches die meisten Therapeuten (97%) in ihrer Arbeit am häufigsten erlebt hatten, die Angst war, daß einer der Patienten sich das Leben nehmen könnte. Außerdem beurteilten viele der Teilnehmer ihre eigene Ausbildung speziell bezüglich des Umgangs mit Gefühlen von Angst und Ärger oder sexuellen Impulsen gegenüber Patienten als unzureichend (Pope & Tabachnick 1993). Dies könnte auch auf auf einen spezifischen Nachholbedarf bei erfahrenen Therapeuten in Bezug auf Ausbildung oder Selbsterfahrung zumindest in den USA hindeuten.
Inwieweit Psychotherapeuten, die diesen Nachholbedarf decken möchten, sich von anderen unterscheiden, konnte auch in der vorliegenden Studie überprüft werden. Einige der Organisatoren dieser 19 Seminare hatten die Veranstaltung nur für Interessierte ausgeschrieben, während andere das Seminar für eine geschlossene Ausbildungsgruppe in Verhaltenstherapie als Pflichtveranstaltung ihres Ausbildungscurriculums anboten. Eine Gegenüberstellung dieser beiden Gruppen ist in Abbildung 3 zu sehen.
Hier zeigt sich bis auf eine Ausnahme (8) eine durchweg höhere Ausprägung der Ängste bei den Teilnehmnern, die sich selbst um diese spezifische Fortbildung bemühten (S.F.). Signifikant sind diese Unterschiede nur in bezug auf sehr basale therapeutische Kompetenzen: Die Angst, die dem Thema angemessene Sprache nicht zu finden (14), die Angst davor, den Patienten `erst auf die Idee zu bringen' (12) und die eher allgemeine Angst vor der Verantwortung (6). Die eigenen persönlichen Schwierigkeiten mit der Suizidproblematik scheinen für die Auswahl eine eher untergeordnete Rolle zu spielen. Die Möglichkeit, daß in diesen eher verhaltenstherapeutisch orientierten Ausbildungsgruppen gerade diese Ängste stärker verdrängt werden als in anderen, ist fraglich, da in diesen Gruppen auch viele Teilnehmer mit analytisch orientierten und sog. humanistischen Therapieansätzen zu finden waren, welche die VT-Ausbildung wohl vorwiegend aus pragmatischen Gesichtsunkten absolvierten.
Macht ein Patient während der laufenden Therapie Andeutungen, daß er sein Leben beenden möchte, so können gerade die letzteren Ängste durchaus dazu führen, daß Therapeuten auf das Thema gar nicht weiter eingehen. Sie akzeptieren jedes andere vom Klienten neu angeschnittene Problem, oder lenken sogar selbst das Gespräch in eine andere Richtung. Dabei unterstützen sie sich durch Rationalisierungen wie: "Man muß in der Therapie möglichst über positive Dinge reden", "Das war sicher nicht so ernst gemeint" oder (erstaunlicherweise immer noch) besonders häufig "Wenn man da zu tief einsteigt, bringt man den Klienten noch mehr auf diese Schiene." Es mag sein, daß hier auch Abwehrmechanismen eine Rolle spielen, welche die Angst vor dem Tod an sich widerspiegeln.
Welche Ängste sind in welcher Ausprägung hilfreich und welche sollte man eher gar nicht haben? Die Regel, daß der Therapeut immer angstfreier sein sollte als der Patient, wie dies bei der Behandlung von phobischen Problematiken durchaus sinnvoll ist, muß hier in dieser Strenge nicht gültig sein. Das Kriterium für eine Bewertung kann jedoch nur in der Wirkung einer bestimmten Angst auf die Krisenintervention bzw. den therapeutischen Prozeß zu suchen sein.
So meint z.B Pohlmeier (1982) dazu: "Eine Grundbedingung für Selbstmordverhütung ist das Eingeständnis der Angst und ihrer Wahrnehmung. Andernfalls bekommt der Lebensmüde nämlich das Gefühl der Unehrlichkeit, des Nichternstgenommenwerdens, mangelnder Offenheit, des Mißtrauens mit der bangen Frage, wie weit kann ich mich dem Helfer anvertrauen, wie belastbar ist er, wieviel Interesse ist vorhanden." (a.a.O., S.178f) Allerdings sagt er dann auch, "... daß Selbstmordverhüter ein bestimmtes Maß an Angstfreiheit, Konfliktfreiheit und Übereinstimmung mit sich selbst haben müssen, wenn sie diese Tätigkeit erfolgreich und ausgeglichen ausüben wollen." (S.169).
Dies erscheint wie ein Widerspruch, den Pohlmeier jedoch spätestens in einem anderen Artikel zum gleichen Thema auflöst indem er schreibt: "Angst zu bewältigen oder zu beseitigen, wird nicht mehr als erreichbares Ziel für den Menschen angesehen (...). Es kann nur darum gehen, mit Ängsten umzugehen und leben zu lernen." (Pohlmeier 1992, S.254)
Thomas Giernalczyk, der seine Arbeit im Bereich der Krisenintervention (Die Arche; München) ebenfalls auf psychoanalytischer Grundlage betreibt, greift in diesem Zusammenhang auf den von W.R. Bion geprägten Begriff des Containing (n. Lazar 1992) zurück. Das heißt, die Aufgabe des Therapeuten besteht bei Krisensituationen zunächst darin, daß er "... die negativen und aushaltbaren Gefühle in sich aufnehmen muß, sie verarbeitet und in verwertbaren Portionen an die Krisenklienten zurückführt. Wut, Trauer und Verzweiflung containen heißt nicht, sich völlig mit dem Klienten zu identifizieren und beispielsweise mit ihm zu weinen, es bedeutet aber, diese Gefühle auf sich wirken zu lassen und sie nachzufühlen." (Giernialczyk 1995, S.25).
Es existieren einige ältere Studien, welche die Wirkungen der Emotionen des Therapeuten belegen konnten. Wogan (1970) fand, daß der Therapieverlauf umso erfolgreicher war, je mehr der Therapeut bei sich `Ängstlichkeit' und `Somatisierung' registrierte und je weniger er zu Verdrängungen von Emotionen neigte. Dagegen steht eine Untersuchung von Yulis und Kiesler (1968) die zeigt, daß hoch ängstliche Therapeuten weniger in der Lage sind, sich persönlich in die therapeutische Interaktion zu involvieren als niedrig ängstliche.
In der Supervision von Therapeuten, die gegenüber ihren suizidalen Patienten aggressive Impulse entwickeln, weil sie sich hilflos fühlen, war bisher die gängige Strategie, ihr narzißtisches Bedürfnis nach therapeutischer Omnipotenz zu bearbeiten. Diese psychoanalytische Herangehensweise wurde von Henseler und Reimer (1981) beschrieben und ist für die Psychohygiene der Therapeuten in diesem Arbeitsfeld wohl eine wichtige Hilfe. Allerdings fällt dabei das oft noch naheliegendere Problem, nämlich, daß viele Therapeuten sich mit Recht inkompetent fühlen, weil sie nicht genügend auf solche Situationen vorbereitet wurden, unter den Tisch.

Da inzwischen eine große Zahl der Seminarteilnehmer, wie oben schon erwähnt, den Fragebogen auch nach dem Seminar ausgefüllt hat, ist eine weitere Analyse der vorliegenden Daten vorgesehen. Die Frage dabei wird sein, inwieweit es möglich ist, diese Ängste durch ein solches Trainingsseminar zu beeinflussen. Nachdem manche Ängste vor dem Seminar in sehr geringer Ausprägung vorhanden sind, könnte es durchaus sein, daß die Teilnehmer für manche eigenen Ängste erst durch die im Training erfahrene Konfrontation mit dem Thema sensibilisiert werden. Andererseits wäre zu wünschen, daß bei anderen Ängsten, wie zum Beispiel der in dieser Untersuchung an dritter Stelle stehenden `Angst, keine  Interventionsmöglichkeiten zur bieten zu haben' eine Verringerung stattfindet.
 


Literatur:

  • Dorrmann, W. (1996; 2.Aufl.). Suizid. Therapeutische Interventionen bei Selbststötungsabsichten. München: Pfeiffer
  • Giernalzcyk, T. (1995). Lebensmüde. Hilfe bei Selbstmordgefährdung. München: Kösel
  • Henseler, H. & Reimer, Ch. (Hgg) (1981). Selbstmordgefährdung. Zur Psychodynamik und Psychotherapie. Stuttgart: frommann-holzboog
  • Lazar,R.A. (1992). Container - Contained und die helfende Beziehung. In: Erdmann, M. (Hrsg). Die hilfreiche Beziehung in der Psychoanalyse. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
  • Pohlmeier, H. (1982). Selbstmordverhütung als Praxisfeld der Medizinischen Psychologie. In Pohlmeier (Hg.): Medizinische Psychologie und Klinik. Stuttgart. Verlag für angewandte Psychologie
  • Pohlmeier, H. (1992). Ängste des Therapeuten als typisches Therapieproblem im Umgang mit Suizidpatienten. In: Wedler H. et al. (Hg.). Therapie bei Suizidgefährdung. Regensburg: Roderer S.249-254
  • Pope K.-S. & B.G. Tabachnick (1993). Therapists' anger, hate, fear, and sexual feelings: National survey of therapist responses, client characteristics, critical events, formal complaints, and training. Profess. Psychol. Research and Practice, 24(2), 142-152
  • Wogan, M. (1970) Effekt of therapist-patient personality variables on therapeutic outcome. J. o. Consulting Psychology, 35, 356-361
  • Yulis, S, & Kiesler, D.J. (1968). Countertransference response as a function of therapist anxiety and content of patient talk. J. of Consulting and Clinical Psychology, 32, 413-419
    Ergänzende Literaturhinweise:
  • Dorrmann, W. (1998). Suizidale Patienten: Wie geht es den Therapeuten? Motive - Ängste - Psychohygiene. Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis, 30(1), 33-45
  • Dorrmann, W. (1999; in Vorber.). Verhaltenstherapeutische Interventionen bei Suizidalität. Fundamenta Psychiatrica, 13
  • Storck, I. & Dorrmann, W. (i. Vorber.). Die Veränderung der Ängste von Psychotherapeuten vor Situationen mit suizidalen Patienten durch ein Trainingsseminar zum Thema "Krisenintervention bei Suizidalität".

 

 


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Letzte Bearbeitung: Sonntag, 22. Februar 2009